Ein wunderbares Bild in der Seele

Begegnungen in Nidden auf der Kurischen Nehrung

Ein weniger bekannter Arbeitszweig der Evangelischen Kirche in Deutschland ist die Urlauberseelsorge. In ihrem Urlaub engagieren sich Pastoren ehrenamtlich in der Betreuung von Urlaubern. In beliebten deutschen Ferienregionen unterstützen sie die Ortspastoren. Im europäischen Ausland laden sie zum Gottesdienst in deutscher Sprache ein. So entsteht an vielen Urlaubsorten eine Gemeinde auf Zeit und ein bisschen Heimat in der Fremde.

Karl Friedrich Ulrichs hat diesen Dienst schon mehrmals in den südfranzösischen Cevennen geleistet. In diesem Jahr ist er mit seiner Frau Kathrin Oxen, Pfarrerin in Bützow, und der kleinen Tochter Friederike auf die Kurische Nehrung nach Nidden (Litauen) gereist.

Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebenso gut wie Spanien und Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll“, stellte Wilhelm von Humboldt vor fast zweihundert Jahren fest. Die an manchen Stellen kaum 500 Meter breite Landzunge, die das Kurische Haff von der Ostsee trennt, ist mit ihren Wanderdünen, dem 100 Kilometer langen feinsandigen Ostseestrand und den an der Haffseite gelegenen Fischerdörfern auch heute noch für viele Menschen ein Sehnsuchtsort.

Die Schönheit der Natur ist aber nicht das Einzige, was sie hierher zieht. Viele Menschen kommen auf die Nehrung, weil sie nicht nur dieses „wunderbare Bild in der Seele“ suchen, sondern auch etwas für ihre eigene, manchmal verwundete Seele tun möchten. Unsere Begegnungen in Nidden haben uns gezeigt, dass es in den meisten Fällen um viel mehr geht als um Urlaub.

„So hat meine Mutter mich auch getragen, damals auf der Flucht“, erzählt uns ein älterer Mann mit Tränen in den Augen, als er unsere kleine Friederike auf Mamas Arm in der Kirche sieht. Es sind vor allem die Kriegskinder und deren Kinder, die hier in Nidden die Spuren der Vergangenheit suchen. Sie setzen sich bewusst der Erinnerung und auch dem Schmerz aus, den sie auslöst, und finden im Urlaubspastor einen Ansprechpartner. Der Gottesdienst in deutscher Sprache am Sonntag ist ein Treffpunkt für Menschen aus ganz Deutschland. In der Niddener Fischerkirche begegnen sie sich, erzählen von sich – hier geschieht Urlauberseelsorge im Sinne des Wortes.

Neben den Sonntagsgottesdiensten gehört die Öffnung der Kirche am Vormittag zu den Aufgaben des Urlaubspastors in Nidden. Täglich kommen mehrere Besuchergruppen, ein interessiertes, offenes Publikum, das sich ansprechen und anrühren lässt von der Geschichte der 1888 erbauten Kirche und der evangelischen Gemeinde. Für den Urlaubspastor keine öde Kirchenwache, sondern eine Chance für viele interessante Begegnungen. Die sicherheitshalber mitgenommene Lektüre bleibt ungelesen liegen. „Du glaubst nicht, wen ich heute getroffen habe“ ist der häufigste Satz, wenn der Urlaubspastor zum Mittagessen wieder in die Wohnung im evangelischen Gemeindehaus kommt - auch Reformierte aus der Grafschaft Bentheim waren dabei! Wohl beinahe 1000 Menschen sind in den knapp drei Wochen unseres Aufenthalts durch die Angebote der Urlauberseelsorge erreicht worden.

Die schlichte Kirche mit dem Chorraum im „Niddener Blau“ ist ein Ort der Erinnerung und Begegnung. Im Mittelpunkt des Raumes steht das Altarbild, eine Darstellung des sinkenden Petrus. Ein Bild, das auch die Geschichte der kleinen evangelischen Gemeinde erzählt. Im Zweiten Weltkrieg und in der sowjetischen Zeit zerstört, hängt nunmehr eine dritte Fassung des Bildes in Nidden. Von der Künstlerin wurde die biblische Geschichte mit einer kleinen Veränderung des Motivs gleichsam auf das Kurische Haff geholt: Statt des Fischerbootes vom See Genezareth ist am Bildrand nun ein Kurenkahn zu sehen. Die menschlichen Urerfahrung des Versinkens und Gehalten-Werdens gehörte zur Lebenserfahrung der kurischen Fischer. Sie gilt heute aber auch für die deutsche evangelische Gemeinde, die nur noch aus einer Handvoll Menschen besteht. Denn die deutsche Geschichte der Kurischen Nehrung wird unwiderruflich versinken. Gehalten wird sie durch die Erinnerungen der Menschen, die hierher kommen, und belebt vor allem durch kulturelle Ereignisse, die im Sommer auf der Nehrung stattfinden und an die Vergangenheit Niddens als Treffpunkt für bildende Künstler und Dichter und das Miteinander von deutscher und baltischer Kultur im nordöstlichen Zipfel Europas erinnern.

Urlauberseelsorge bedeutet, auch im Urlaub im Dienst zu sein. Schnell ist man „der Pastor“, wird wiedererkannt und angesprochen, auch abends im Restaurant. Aber die Arbeit und vor allem die intensiven Begegnungen, die sie möglich macht, geben dem Urlaub eine für uns bisher unbekannte Tiefendimension. Eine Gemeinde auf Zeit, ohne den pfarramtlichen Alltag, Menschen begegnen, schöne Gottesdienste feiern. Mit „wunderbaren Bildern in der Seele“ sind wir nach Hause gekommen.

Kathrin Oxen und Karl Friedrich Ulrichs

 

Foto: Kurenwimpel mit Schriftzug „Gott mit uns“