Ostfriesland
Schon um 1520 herum zeigen sich reformatorische Aktivitäten in Ostfriesland. Dabei ragt der aus der sogenannten "Devotio moderna" beeinflußte Aportanus in Emden hervor. Die "Devotio moderna" war eine im 14. Jahrhundert entstandene und dann im 15. Jahrhundert blühende kirchliche Reformbewegung mit Schwerpunkt in den Niederlanden.
Unterstützung erhalten die reformatorisch Gesonnenen in den größeren Orten (Emden, Norden, Aurich und Leer) und durch einzelne Angehörige des Häuptlingsadels (Häuptlinge wurden die Fürsten in Ostfriesland genannt). Vor allem Ulrich von Dornum sorgt durch die Veranstaltung des "Oldersumer Religionsgesprächs" 1526 für eine Auseinandersetzung zwischen reformatorischen Ansätzen und der römisch-katholischen Theologie (Themen sind die Mittlerschaft Christi, die Funktion Marias und die Rechtfertigungslehre).
Das führt zur Profilierung evangelischer Positionen in Ostfriesland. Auffallend ist, dass die reformatorischen Positionen in Ostfriesland zunächst eher an Zwingli erinnern; Luther wird besonders hinsichtlich der Lehre von der Kirche als unzureichend empfunden.
Im Jahre 1528 entsteht das "Prädikantenbekenntnis", in dem den Sakramenten abgesprochen wird, dass sie heilsvermittelnd seien - damit wenden sie sich gegen Luther, dem sie mangelnde Konsequenz vorwerfen. Das führt innerhalb Ostfrieslands zu Konflikten zwischen dem Landesherrn Enno II., der aus politischer Rücksichtnahme lutherischen Positionen den Vorzug gab, und den unlutherischen Kreisen, die man "reformiert" noch nicht nennen kann. U.a. aufgrund des Schutzes einiger Häuptlinge bleiben die "Unlutherischen" bei ihren Erkenntnissen.
1540 übernimmt Gräfin Anna die Regierungsgeschäfte. Zu der Zeit ist deutlich, dass sich in Ostfriesland zwei nebeneinander existierende reformatorische Linien gebildet haben: die lutherische und die andere, die später reformiert werden wird. Im gleichen Jahr 1540 war Johannes a Lasco, polnischer Adliger und Schüler von Erasmus von Rotterdam, theologisch aus Straßburg und Zürich geprägt, nach Emden gekommen. Diesen humanistischen evangelischen Ausländer beruft Gräfin Anna 1542 zum Superintendenten für alle Evangelischen in Ostfriesland. Er gründet sowohl den "Coetus" in Emden -eine wöchentliche Zusammenkunft aller ostfriesischen Prediger- als auch den Emder Kirchenrat und sorgt für die teilweise Entfernung der Bilder aus den Kirchen. Sein Hauptanliegen ist es, eine gemeinsame Lehre in Ostfriesland herbeizuführen, u.a. durch den von ihm zusammen mit anderen verfaßten Emder Katechismus von 1546. Aber es regt sich gegen a Lasco Widerstand: aus den umliegenden Gemeinden, weil ihnen manches zu radikal, aus den lutherisch geprägten Gemeinden, weil ihnen a Lasco zu reformiert sei.
1549 wird a Lasco auf Betreiben von Graf Johann abgesetzt; a Lasco geht nach London und wird dort Pastor der aus den Niederlanden geflohenen Reformierten. Von dort vertrieben kehrt er mit seiner Gemeinde 1553 zurück, ohne in seine alte Stellung wieder eingesetzt zu werden, und erarbeitet u.a. zusammen mit dem Prediger Gellius Faber, der theologisch stärker zu Calvin tendiert, den 1554 erscheinenden Kleinen Emder Katechismus - dieser ist in Ostfriesland bis 1888 in Gebrauch.
1555 wird a Lasco endgültig des Landes verwiesen, weil er sich aus der Sicht der Regierenden als zu kompromisslos zeigt.
1571 findet in Emden die Synode der Niederländischen reformierten Kirche statt - außerhalb des Territoriums der Niederlande aufgrund der dort stattfindenden blutigen Verfolgung der Reformierten, allerdings ohne Beteiligung ostfriesischer Gemeinden. Die beiden evangelischen Konfessionen in Ostfriesland driften in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auseinander.
Seit 1575 ist der stark von Calvin beeinflußte Menso Alting Pastor in Emden, er organisiert mit seiner Coetusordnung von 1576 die ostfriesischen Gemeinden in reformiertem Sinne, unterstützt von Graf Johann. Sein Bruder, der der lutherischen Tradition zuneigende Edzard II., verbietet in Emden den Coetus. Das führt zu Konflikten zwischen lutherischem gräflichen Magistrat und den Emder Bürgern.
In der Emder Revolution von 1595 erlangen die Bürger die Sonderstellung Emdens als freie Stadt.
1599 entsteht das Emder Konkordat, in dem ausdrücklich das Nebeneinander von reformierter und lutherischer Konfession in Ostfriesland geregelt wird: es gibt in jedem Ort nur eine Kirche (entweder lutherisch oder reformiert), sowohl Lutheraner als auch Reformierte gehören in diesem Ort dieser Gemeinde an und behalten ihren eigenen Konfessionsstand. Das wird das "ostfriesische Sonderrecht" genannt. In den größeren Orten Emden, Leer und Aurich wird das zwar nach einer Weile gebrochen, in den Dörfern besteht diese Regelung zum Teil noch bis heute.
In den meisten reformierten Gemeinden setzt sich bis ins 17. Jahrhundert ein eher strenger orthodoxer Calvinismus durch. Dieser wird an manchen Orten durch pietistische Strömungen abgelöst; die bis heute bekannte "Abendmahlsscheu" (d.h. nur sehr wenige gehen zum Abendmahl, weil sie fürchten, nicht würdig genug zu sein) geht auf diesen pietistischen Einfluss zurück.
Die Kirchensprache ist bis ins 19. Jahrhundert hinein Niederländisch. Seit der Anbindung an Preußen 1744 ist das vornehmlich lutherische Konsistorium in Aurich vorgesetzte Kirchenbehörde auch für die Reformierten; das führt zu Konflikten und auch zur Beschneidung der Rechte des Coetus.
Von daher ist der Wunsch gerade der ostfriesischen Gemeinden verständlich, sich mit anderen reformierten Gemeinden zu einer Kirche zusammenzuschließen, um nicht mehr unter dem lutherischen Konsistorium zu stehen. Das geschieht, wie im vorigen Abschnitt deutlich gezeigt wurde, schließlich ja auch 1882.
Die ostfriesischen Regionen der Evangelisch-reformierten Kirche bilden heute die Synodalverbände Nördliches und Südliches Ostfriesland sowie den Synodalverband Rheiderland.